Tödliche Granatsplitter 

Nassenfels am 25. April 1945 - Mutter von sechs kleinen Kindern starb.

von Willibald Heigl

 

Die Gemeinde Nassenfels liegt zwischen den Städten Eichstätt und Neuburg. Am Haupteingang zur örtlichen Pfarrkirche St. Nikolaus stehen auf der Ehrentafel namentlich alle jene der Gemeinde, die im vergangenen Jahrhundert Opfer der beiden Weltkriege geworden waren. Die Namen klagen an und mahnen zugleich.

Wer aufmerksam Zeile für Zeile liest, dem fällt dabei der weibliche Vorname "Walburga" auf. 

Mit diesem Frauennamen hat es Folgendes auf sich: 

Walburga übernahm das elterliche Anwesen Nr. 24. Sie heiratete im September 1934 den am 23. November 1905 in Irgertsheim geborenen Jakob Weiß. Zum Haushalt dieser jungen Familie zählte damals schon die unverheiratete Anna Bauer, geboren am 15. April 1875.

Anna (die späteren Kinder nannten Sie  "Anna-Bas") war väterlicherseits Walburgas Tante.

 

Jakob Weiß wurde zum Kriegsdienst eingezogen. Als Folge davon bekam die Familie als Arbeitskräfte für die Landwirtschaft eine Zwangsverpflichtete aus Polen und einen Kriegsgefangenen aus Frankreich zugeteilt. Zusätzlich half in den letzten Wochen vor dem Eintreffe der Amerikaner Anna Sandner aus Nassenfels täglich im Haushalt aus, weil Walburga unter starkem Rheuma litt. 

 

Der nur tagsüber auf dem Anwesen Nr. 24 anwesende Franzose stand, wie auch seine weiteren Kameraden, in der übrige Zeit unter Aufsicht eines deutschen Soldaten. Hierzu waren im Obergeschoss der heutigen Metzgerei Lehenmeier in der Neuburger Str. 3 Räume entsprechend umgebaut. 

 

 

Teilansicht der Ehrentafel der Gemeinde Nassenfels

 

Ortskern von Nassenfels (Bild 1958). 
Der farbig markierte Teil stell das ehemalige Nr. 24 dar. Das weiße Gebäude ist der davor entstehende Neubau.


 

 

 

 

Brautbild der Eheleute Walburga und Jakob Weiß

 

Walburga Weiß gebar folgende Kinder: Michael am 15. Januar 1937, Walburga am 9. Oktober 1938, Benno am 29. September 1939, Hans am 22. Juni 1941, Eduard am 10. Oktober 1942 und Barbara am 20.Dezember 1943

 

 

Im Frühjahr 1945 war das Ende des zweiten Weltkrieges, der vom 1. September 1939 bis zum 8. Mai 1945 dauerte, abzusehen. 

Die Amerikaner waren der Deutschen Wehrmacht in allen Belangen überlegen. Deshalb kamen Sie auch zügig voran. 

Am 24. April 1945 besetzten sie bereits das westliche Gebiet des Landkreises Eichstätt (Siehe auch hier). Vorsorglich begab sich deshalb Walburga an diesem Tag in Abwesenheit ihres Ehemannes zusammen mit ihren sechs Kleinkindern und mit der "Anna-Bas" in den Kartoffel- bzw. Rübenkeller im Wirtschaftsgebäude neben dem Wohnhaus. 

Die Mutter war zuversichtlich, in diesem Keller mit ihrer Familie bei eventuellen Kampfhandlungen geschützt zu sein. 

 

Die zugeteilte Polin blieb dem Schutzraum fern. Über ihren Aufenthalt gibt es keine Informationen. Vermutlich setzte sie sich zu diesem Zeitpunkt schon ab. Anna Sandner hingegen verbrachte die bevorstehenden nicht ungefährlichen Tage bei ihrer Familie in Nassenfels. 

 

Am 25. April 1945, es war ein Mittwoch, kam es in Zell unerwartet zu einem folgenschweren Infanteriegefecht mit einem tödlich verletzten Amerikaner. Auf deutscher Seite mussten die im Sammelgrab am östlichen Ortsrand von Zell beigesetzten achtzehn Soldaten, darunter drei Jugendliche (!),  ihr Leben lassen. Im Zusammenhang mit diesem Gefecht beschoss die amerikanische Artillerie auch Nassenfels. Im Ortskern hielten sich noch deutsche Soldaten auf, u.a. auch in der Scheune der Familie Weiß. 


Es war jedenfalls riskant, sich ins Freie zu begeben. Dennoch verließ die Mutter gegen 15:00 Uhr den Schutzraum, um aus dem Wohnhaus nebenan für die Kinder noch zusätzliche Bekleidungsstücke und Decken zu holen. 

Ausgerechnet in diesem Augenblick krepierte auf der befestigten Fläche unmittelbar nördlich des Gebäudes 24 ein amerikanisches Artilleriegeschoss. Splitter dieser Granate trafen Walburga Weiß tödlich. Deutsche Soldaten trugen den Leichnam in den Keller, in dem die sechs Kleinkinder und die "Anna-Bas" warteten. 

Die Uniformierten legten den Leichnam an die Rückseite des nur dürftig belichteten Raumes, das Gesicht der Toten war mit einem Tuch bedeckt. Die Erwachsenen versuchten, die erschreckten, verstörten und weinenden Kleinkinder mit dem Hinweis zu beruhigen, dass ihre Mutter nur schlafe. Die Realität aber sah anders aus. 

 

Am 26. April 1945 war Nassenfels von deutschen Soldaten frei, dafür aber von amerikanischen Truppen besetzt. Eine unmittelbare Lebensgefahr für die Zivilbevölkerung war nicht mehr zu befürchten. Erst an diesem Tag also konnte der Leichnam schließlich vom Keller in das Wohnhaus gebracht und das Unglück sowohl bei der Gemeinde als auch beim Pfarramt registriert werden .

Im Sterberegister der Gemeinde Nassenfels gab "Anna-Bas" als Todesursache und Todeszeitpunkt zu Protokoll:

"Feindeinwirkung, Granatsplitter in die Brust und Füße, 15:00 Uhr"

In den Unterlagen beim Pfarramt ist hierzu eingetragen: 

"Weiß Walburga 1/2 4 Uhr verstorben. Beerdigung: 27. April 1945, mittags ein Uhr wegen Kriegsgefahren. Bemerkungen: Durch Granatsplitter bei Artilleriebeschussdurch Amerikaner.

 

 

 

 

 

 

Unmittelbar vor dem Gebäude Nr. 24 krepierte die todbringende Granate.


Wegen der Verhältnisse wurde das Sterbebild mit Sicherheit erst geraume Zeit nach der Beisetzung gedruckt.

Dekan Eduard Kastner beerdigte die Verunglückte schon am Tag nach der offiziellen Registrierung. Der 1960 verstorbene Zimmermann Max Crusius musste deshalb in aller Eile aus ungehobelten Brettern einen notdürftigen Sarg zusammennageln. 

 

Die Amerikaner als Besatzungsmacht diktierten das Geschehen im Ort nicht nur am Tag ihres Einmarsches (26. April 1945) sondern auch nicht Tage danach. Ferner konnten sich nunmehr die ehemaligen  Kriegsgefangenen sowie die Zwangsverpflichteten frei bewegen. 

Plünderungen blieben nicht aus. So tauchten z.B. ehemalige Gefangene mit einem einspännigen Fuhrwerk im Ort auf. Ihnen schlossen sich Franzosen aus Nassenfels an. Die Gesamtgruppe nahm sich zusätzlich ein Pferd, und zwar ausgerechnet aus dem Stall der ohnehin schon hart getroffenen Familie Weiß. Die Franzosen machten sich dann zweispännig auf den weiteren Weg in Richtung Zell. Das trug u.a. dazu bei, dass die eingeschüchterte Bevölkerung ihre Häuser kaum verließ. Unterdiesen umständen wagten sich zur Beisetzung von Frau Walburga Weiß nur wenige Personen auf den Friedhof. 

Anna Sandner war damals als junge Frau  eine der Anwesenden. Im unmittelbaren Zusammenhang mit der keineswegs würdevollen Beerdigung konnte weder eine Trauermessegelesen noch ein Rosenkranz gebetet werden. 

 

Selbst die damals schon älteren Kleinkinder können sich nicht an das Begräbnis ihrer Mutter erinnern. Sicherlich wollte man ihnen die Teilnahme daran auch ersparen. 


Ausgelöst durch diese schreckliche und abgrundtiefe Tragödie am 25. April 1945 lastete von der eine auf die andere Stunde die Gesamtverantwortung für die sechs Kleinkinder und für die Landwirtschaft allein auf den Schultern der "Anna-Bas". Sie war die einzige Person auf dem Anwesen Nr. 24. Schon alleine wegen ihres sehr angeschlagenen Gesundheitszustandes sah sich die inzwischen siebzig Jahre alte Frau außerstande, die schwierigen und vielfältigen Probleme allein zu meistern. Angesichts der ihr plötzlich zugefallene Aufgaben zählte nur sofortige und breit angelegte Fremdhilfe. So nahmen z.B. einige örtliche Bauern in ihren Stallungen Großtiere in Pflege. In Absprache und in Kooperation mit den Verwandten der Familie Weiß in Irgertsheim wurden zudem die Felder bearbeitet. Auch in dieser "Übergangs"-Phase brachte sich Anna Sandner auf dem Anwesen Nr. 24 helfend ein.

 

Die Hauptsorge galt aber vorrangig den Kindern. Maria Barthel, die damals Alleinstehende im Schloss zu Nassengels wohnte, nahm sofort das jüngste Kind Barbara auf. Drei verwandte Familien in Irgertsheim sorgten für die anderen Geschwister. 

 

"Anna-Bas" bewohnte das Anwesen Nr. 24 fortan alleine. Deshalb konnte Barbara schon nach kurzer Zeit wieder auf den elterlichen Hof zurück. 

 

Alle diese Sofortmaßnahmen hatten vorläufigen Charakter. Der Kindsvater sollte nach Rückkehr aus der Gefangenschaft über seine familiäre und wirtschaftliche Zukunft selbst entscheiden können. 

Jakob Weiß kam am 3. Juni 1946 nach Hause.

 

Für Gefangene in Russland war das ungewöhnlich früh. Offenbar hatte das Bemühen der US-Militärregierung wie der katholischen Kirche (initiiert durch Peter Göbel) , Weiß wegen der besonderen Situation vorzeitig entlassen zu wollen, Erfolg. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Soldbuch des Jakob Weiß


Die zweite Ehefrau Anna Weiß

Aus dem spärlichen Schriftverkehr ist zu schließen, dass Weiß über das in der Heimat geschehene Leid schon während der Gefangenschaft Kenntnis bekam. 

 

Jakob Weiß fand bei seiner Ankunft im Anwesen Nr. 24 nur "Anna-Bas" und seine jüngste Tochter Barbara vor. Stallungen und Scheune waren leer; die landwirtschaftlichen Geräte fehlten gänzlich. Der Heimkehrer stand praktisch vor dem Nichts. Er musste familiär wie auch wirtschaftlich neu anfangen. 

 

Von seinen fünf Kindern in Irgertsheim beendete der älteste Sohn Michael dann bereits am 23. Juli 1946 seinen dortigen Aufenthalt. 

 

Familiär schmerzte der Verlust der Ehefrau bzw. der Mutter sehr. Jakob Weiß blieb keine andere Wahl, als die dezimierte Familie alsbald wieder zu ergänzen. Er und Anna Zeller, geboren am 19. April 1908, aus Bergheim kannten sich schon seit  ihrer Jugendzeit. Vermutlich war das dafür ausschlaggebend, dass sich Anna so kurzfristig für den Witwer und für seine sechs Halbwaisen entschied. Wie dem auch sei. Man kann, ja man muss es als glückliche Fügung sehen, dass sich diese frau in der extrem schwierigen Situation dazu berufen fühlte, die Rolle der fehlenden Mutter zu übernehmen. 


Bei der Trauung am 24. September 1946 in Nassenfels waren zwar alle Kinder zugegen. Walburga, Benno, Hans und Eduard mussten aber danach noch einen Monat in Irgertsheim verbleiben. 

Ab dem 22. Oktober 1946 schließlich war die gesamte "neue" Familie Weiß im Geburtshaus der Kinder wieder vereint. 

Teilansicht aus dem Anmelderegister der Gemeinde Nassengels


Die "Apfelschimmel" waren das Markenzeichen und der Stolz der Familie Weiß. Die Ordensfrau Barbara, Schwägerin des Jakob Weiß, geht lieb mit den Fohlen um. 

 

 

 

Noch lange nach dem Ende deszweiten Weltkrieges waren in größeren Betrieben der Landwirtschaft Pferde als Arbeitstiere unverzichtbar. Das musste Jakob Weiß gerade in der Zeit seines landwirtschaftlichen Neubeginns erfahren. 

Fehlte ihm doch sein ihm 1945 entwendeter "Apfelschimmel" (es handelte sich um den Gaul mit apfelgroßen dunklen Flecken im hellen Fell). Jahre später kam Weiß dann ein glücklicher Umstand zugute. Die Franzosen trennten sich nämlich offenbar in der Gegend von Weißenburg vom im Jahr zuvor mitgenommenen Pferd.

Das wurde durch Zufall bekannt. Weiß, der mit dem Besitzer Kontakt aufnahm, belegte zweifelsfrei sein Eigentum an dem Tier. Trotzdem verweigerte der Besitzer zunächst die Herausgabe.

Erst nach mehrmaligen und zähen Verhandlungen konnte der "Apfelschimmel" schließlich doch wieder seinen angestammten Platz im heimischen Stall in Nassenfels einnehmen.


Der in Nassenfels wohnhafte Sohn Eduard ist nicht verheiratet. Seine übrigen fünf Geschwister gründeten längst eigene Familien, und zwar Walburga und Barbara in Egweil unter den Familiennamen Luidl bzw. Neumeier, Hans und Michael in Nassenfels sowie Benno in Neuburg. 

 

Michael verstarb am 9. September 1973. Hans übernahm das elterliche Anwesen Nr. 24. Als Ersatz für das ehemalige Wohnhaus steht unmittelbar nördlich davor seit 1958 ein Neubau mit der nunmehrigen Anschrift "Neuburger Straße 1".

Die sechs "Weiß"-Geschwister (Bild 1954).

Hintere Reihe: (v. l.) Michael, Johann, Benno, Eduard;
vordere Reihe: (v. l.) Siglinde Bauer (Nachbarin) sowie Walburga und Barbara

 

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